Kister über Kieser: „einfach zeitlos“

Johannes Kister, Architekt und Professor für Entwerfen und Baukonstruktion an der Hochschule Anhalt (FH) am Bauhaus Dessau über die Qualität von Einfachheit und Zeitlosigkeit.

© Behrendt & Rausch Fotografie, DBZ

Herr Professor Kister, es ist Samstag, 15.00 Uhr – und Sie arbeiten?
Ich arbeite jeden Samstag. Das gibt mir Gelegenheit, zeitvergessen und ohne Störungen an Projekten zu arbeiten. Vorher gehe ich zu Kieser Training, vorbeugend, gegen die Risiken des Berufes. Das hat natürlich etwas mit der Haltung am Schreibtisch, am PC oder während Besprechungen zu tun. In eine musikbeschallte Muckibude wollte ich nicht gehen, Pilates war mir zu feminin – auch wenn das sicher ein Vorurteil ist. Kieser fand ich auf eine sympathische Art ansprechend.

In ästhetischer oder in funktionaler Hinsicht?
In beiderlei Hinsicht. Ästhetisch finde ich gut, dass die Einrichtung minimalistisch und auf das Pure bezogen ist. Mir gefällt das Grau der Maschinen. Es sind Geräte, bei denen das Design unsichtbar ist. Die wollen nicht mit einer stromlinienförmigen Gestaltung einen besonderen Energiefluss symbolisieren, sondern sind kantig, technisch, sachlich – und dennoch gut anzuschauen. Diese Einfachheit stellt die Qualität dar. Auch empfinde ich es als angenehm, dass es keine Videos, keine Werbung und keine sexualisierte Atmosphäre gibt – man ist auf sich und seine Übungen zurückgeworfen. Je länger ich darüber nachdenke, desto bemerkenswerter finde ich das. Ich würde mich in einer lauten Muckibude fehl am Platze fühlen. Das Konzept ist nicht auf die Bedürfnisse einer einzigen Altersgruppe abgestimmt, zu Kieser gehen sehr junge und sehr alte Menschen. Diese Art von Zeitlosigkeit ist ebenfalls eine Qualität.

Und in funktionaler Hinsicht?
Mir gefällt die sachliche Art und das Prinzip: Ich muss mich nicht stundenlang auf dem Rad abrackern oder Stöhn-Acts mitanhören, sondern kann in kurzer Zeit mein Programm absolvieren. Man sitzt einfach selbstvergessen an den Geräten, dazu trinkt man etwas Wasser, fertig. Ich habe keine Rückenbeschwerden mehr, weder in der Lenden- noch in der Halswirbelsäule. Deshalb bleibe ich dem auch treu.

Wir wollten uns über das Bauhaus unterhalten …
Ja, das Bauhaus hatte ja die Ganzkörperbetrachtung zwischen dem Sehen, dem Wahrnehmen und der sportlichen Ertüchtigung. Gymnastik und Sport waren ein großes Thema. Da gibt es ja die berühmten Bilder, wie man auf der grünen Wiese Sport machte. Das heißt, auch den ganzen Körper als Instrument zu betrachten.

Ist der Bauhausstil noch aktuell?
Heutzutage wird viel mit dem Bauhaus in Verbindung gebracht, was im Grunde genommen banal ist. Rechteckig, weiß, möglichst einfallslos. So war es ja nicht. Das Bauhaus war komplex, farbig und hatte eine subtile räumliche Qualität. Diese Komplexität lässt sich an den Meisterhäusern gut erkennen. Das hat nichts damit zu tun, was heute beispielsweise in Immobilienanzeigen als Wohnung im Bauhausstil angepriesen wird.

© Wilfried Dechau

Die weiße Schuhschachtel in Serie …
Es gibt eine Wirkungsgeschichte, die in zwei Richtungen Blüten getrieben hat. Auf der einen Seite die Verherrlichung und die mystische Atmosphäre, die um die Bauhausmeister entstanden ist. Wir wissen heute, dass der Geniekult von Walter Gropius, dem Gründer und ersten Bauhausdirektor des Bauhauses, inszeniert worden ist. Auf der anderen Seite ist das Bauhaus in Deutschland nach dem Krieg als rhetorische Metapher willig angenommen worden, um nach dem Desaster des dritten Reiches und der Speerschen Architektur architektonische Anknüpfungspunkte zu haben. Da hat man die Moderne natürlich als eine Lösung gesehen. Das allerdings hat einer rein pragmatischen Betrachtung Vorschub geleistet. Man hat die subtile künstlerische Qualität aufgegeben und das Ganze nur noch auf Rationalität und Funktionalität reduziert. Das führte zu der Architektur, die in den 1960ern und 70ern als Funktionalismus bezeichnet und zu Recht in Frage gestellt wurde – als eine der Seele und räumlichen Differenziertheit hohnsprechenden Pragmatik.

Dennoch hat die Ästhetik des Bauhauses heute noch Gültigkeit ...
Ohne Zweifel. Auf der einen Seite hat das Bauhaus der Moderne einen ästhetischen Ausdruck verliehen, den wir heute noch als gültig empfinden. Wir empfinden die Bauhausästhetik als eine aktuelle Designkraft. Das ist ein Faszinosum. Die Stühle, die Tische, die Typografie, das Prinzip der Formfindung – all das sind Dinge, die in so viele Bereiche des Heute diffundiert sind, etwa ins iPhone, in die digitale Welt auch bis hin zu Kieser. Die Bauhausästhetik hat immer noch die Fähigkeit, authentisch zu sein. Auch wenn der soziale Anspruch des Bauhauses – Leistungen oder Typen oder Lösungen für die Masse zu formulieren – für uns sicherlich nicht mehr diese Bedeutung hat. Erst einmal gibt es diese Gesellschaftsschicht nicht mehr, für die das Bauhaus entwerfen sollte, und außerdem ist unsere Gesellschaft eine individualistischere Gesellschaft. Wir wollen zwar eine Küche, die so schön und klar ist wie die Bauhaus-Küche, aber die soll nicht auch beim Nachbarn stehen. Da hat sich etwas verändert. Jeder hat heute sein eigenes Bauhaus.  

Sie sind seit 1994 Professor für Entwerfen und Baukonstruktion an der Hochschule Anhalt (FH) am Bauhaus Dessau. Was ist Ihnen in der Lehre wichtig?
Es geht mir darum, die ganzheitliche Betrachtung eines architektonischen Themas am Vorbild des Bauhauses zu vermitteln. Etwa um die Bereitschaft, sich mit Neugier mit dem Sehen und Wahrnehmen der handwerklichen und digitalen Techniken auseinanderzusetzen. Wir lehnen uns beispielsweise an die Vorkurse an, wie sie am Bauhaus üblich waren: Übungen, bei denen mit Papier gefaltet wird zur Wahrnehmung plastischer Erfahrungen. Und es geht mir um die Bereitschaft, unter dem Ansporn der Bauhausgeschichte Standards in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich eine authentische Gestaltung finden, ohne das Bauhaus für heutige Themen zu kopieren. Der Ort ist eine permanente Herausforderung, ein Ansporn und ein Dialogangebot, mit dem man mit seiner eigenen Arbeit treten muss. Das muss man auch erst einmal aushalten. Architektur hat viel mit Bildung und Wissen zu tun. Die Präsenz der Bauhausbauten stellt die Frage nach der Rolle von Avantgarden damals und heute.

Was ist der Kern Ihrer eigenen Arbeit?
Unsere Architektur lebt aus der städtebaulichen Argumentation. Das bedeutet, dass wir einem Gebäude eine Adresse für und an dem Ort geben. Wir sind sozusagen das Gegenteil serieller Produktion. Das unterscheidet uns von den Architekten des Bauhauses. Ich glaube, dass das Serielle ganz deutlich Grenzen hat. Auf der einen Seite gibt es so viel Bestand, dass das Bauen in Serie gar nicht möglich ist.
Nach dem Wiederaufbau der Städte hat die Moderne die Vorlage geliefert für serielle Dinge oder Standardlösungen. In den 1970er und 80er Jahren ist wieder in den Fokus gerückt, dass die Stadt ein sehr viel fragileres und mit Geschichte behaftetes System ist, wo man nicht nur mit Funktionalität oder Rationalität zurechtkommt. Das hat Begriffe wie Ort, Raum, Typologie in den Diskurs gesetzt und die narrativen Qualitäten der Architektur wiederentdeckt. Heute würde ich sagen, das sind die Parameter der aktuellen Gestaltung. Ein Bauwerk, das an seinem Ort durch architektonische Qualität einen Wertzuwachs generiert, ist viel nachhaltiger als etwas nur der Ökonomie Entsprungenes.

© ksg-architekten.info

© ksg-architekten.info

© ksg-architekten.info

© ksg-architekten.info

Aus Ihrem Büro stammen die Erweiterungsbauten der Hochschule Anhalt am Bauhaus Dessau. Dazu zählen Mensa, Hörsaalzentrum, das Gebäude der Vermesser und das Atelierhaus für die Künstler. Ich stelle mir solche Projekte an einem solch geschichtsträchtigen Ort ganz schön herausfordernd vor.
Tatsächlich war es das. Die große Frage war: Wie kann man architektonisch neben dem Bauhaus bestehen? Unsere erste Maßgabe war: Es darf auf keinen Fall nach Bauhaus aussehen. Für mich ging es um den Dialog mit dem Ort, der Geschichte und dem kulturellen Hintergrund. Wir haben Bauten gemacht, die das Material Beton thematisieren, also ein klassisch modernes Material. Aber wir sind anders damit umgegangen: Wir haben zum Beispiel eine Beton-Fertigteilfassade entwickelt, der wir eine ganz eigene Grammatik gegeben haben, die sich von der Grammatik der Bauhausfassade mit seinen Stützen, Bandfenstern und der weißen Erscheinung unterscheidet.

Worin zeigt sich diese Grammatik?
Sie resultiert aus der Fertigteilkonstruktion und ist eine Weiterentwicklung des seriellen Bauens in Form von Tafeln, die geschlossen oder offen sind. Diese Tafeln sind in drei Höhenlinien so angeordnet, dass sie den zweigeschossigen Räumen dahinter unterschiedliche Belichtungsverhältnisse geben. So haben die Räume eine sehr differenzierte Fensterqualität mit Unterlichtern, Oberlichtern oder ganzverglasten Flächen. Wir haben die Fassade aus der Funktionalität des Raumes entwickelt, die sich außen in der Grammatik der Fassade durch einen scheinbar spielerischen Wechsel von offenen und geschlossenen Platten abzeichnet. So haben wir eine eigenständige Idee entwickelt, die aber etwas mit den Themen von Licht und Raumwirkung des Bauhauses zu tun hat. Es hat auch etwas mit dem Thema des seriellen Bauens zu tun durch das Thema der sogenannten „Platte“. Und die Farbigkeit hat etwas mit dem Ort zu tun. Denn dort standen ehemals Gebäude für das russische Militär, daher das Grün in den Fertigteilen. Die Bauten sind jetzt 18 Jahre alt – und stehen relativ zeitlos dar. Das ist das, was auch die Bauhausästhetik geschafft hat: Zeitlosigkeit zu entwickeln.


Autor: Tania Schneider